Tipingee - ein Märchen, wie man mit der Stiefmutter auch ohne Prinz fertig wird
Dies ist ein Märchen aus Haiti. Ich habe es aus einer Sammlung von Mädchenmärchen aus aller Welt. Die Märchen der Brüder Grimm mag ich gerne, aber sie spiegeln das sentimentale Frauenbild des Biedermeier wider. Deshalb hat mir dies Märchen so gut gefallen: Hier gibt es auch die klassischen Märchenfiguren und -konstellationen - (Kleines) Mädchen, böse Stiefmutter, die Guten siegen - aber aus eigener Kraft, weit und breit kein Prinz in Sicht!
„
… ein junges Mädchen, das hieß Tipingee. Ihr Vater war gestorben und sein Haus gehörte jetzt ihr. Sie lebte dort alleine mit ihrer Stiefmutter. Ihre Stiefmutter war aber sehr selbstsüchtig. Obwohl das Haus dem Mädchen gehörte, gab sie dem Mädchen kein Taschengeld und wollte nicht mit ihr teilen.
Eines Morgens kochte die Stiefmutter auf der Feuerstelle Bonbons. Sie wollte sie auf dem Markt verkaufen. Da ging das Feuer unter ihrem Kessel aus: Das Holz war alle. Brennholz zu holen, war Tipingees Aufgabe, aber Tipingee war in der Schule. Deshalb musste die Stiefmutter selber in den Wald gehen. Sie lief lange, sie lief und lief, weiter und weiter, aber sie konnte einfach kein Holz finden. Endlich kam sie an eine Stelle, wo es Brennholz in Hülle und Fülle gab. Sie sammelte alles ein und schnürte ein Bündel zusammen.Aber das Bündel wurde zu schwer, um es auf den Kopf zu heben! Jemandem andern gönnte sie das schöne Holz aber auch nicht. So stellte sie sich mitten im Wald hin und schrie: „Liebe Leute, hier ist so viel Holz! Zu Hause habe ich kein bisschen! Wer hilft mir tragen?“
Plötzlich erschien ein alter Mann. „Ich kann dir helfen, dein Brennholz zu tragen.“, sagte er. „Aber was gibst du mir dafür?“ „Ich habe kaum etwas.“, sagte die Frau. „Aber wenn wir erst mal nach Hause kommen, wird mir schon etwas einfallen.“ Da trug der alte Mann das Brennholz für die Stiefmutter, und als sie an ihrem Haus angekommen waren, sagte er: „Ich habe das Brennholz für dich getragen. Also, was gibst du mir jetzt dafür?“Die Frau antwortete: „Ich gebe dir ein Dienstmädchen. Du bekommst meine Stieftochter Tipingee.“
Tipingee war aber schon von der Schule zu Hause, und als sie ihren Namen hörte, rannte sie zur Tür und lauschte. Die Stiefmutter fuhr fort: „Morgen um 12 h schicke ich meine Stieftochter zum Brunnen, um Wasser zu holen. Sie wird ein rotes Kleid tragen. Rufe sie bei ihrem Namen Tipingee, und sie wird zu dir kommen.“ „Sehr schön“, sagte der alte Mann und ging weg.
Da rannte Tipingee zu den Häusern ihrer Freundinnen. Sie ging zu allen Mädchen aus ihrer Klasse und bat sie darum, am nächsten Tag ein rotes Kleid anzuziehen.
Mittags am nächsten Tag kam der alte Mann zum Brunnen. Er sah ein Mädchen, das ein rotes Kleid anhatte. Er sah ein zweites Mädchen, das ein rotes Kleid trug. Er sah ein drittes Mädchen, das rot gekleidet war.
„Welche von euch ist Tipingee?“ fragte er.
Das erste Mädchen sagte: „Ich bin Tipingee.“ Das zweite Mädchen sagte: „Sie ist Tipingee.“ Das dritte Mädchen sagte: „Wir sind auch Tipingee.“
„Welche von euch ist denn nun Tipingee?“ fragte der alte Mann ärgerlich.
Da begannen die Mädchen in die Hände zu klatschen, auf und ab zu hüpfen und zu singen: „Ich bin Tipingee, sie ist Tipingee, wir sind auch Tipingee! Ich bin Tipingee, sie ist Tipingee, wir sind auch Tipingee!“
Rah! Der alte Mann ging zu der Frau und sagte:
„Du hast mich hereingelegt! Alle Mädchen hatten rote Kleider an, und jede hat gesagt, sie sei Tipingee.“
„Das ist ausgeschlossen!“, sagte die Stiefmutter. „Morgen wird sie ein schwarzes Kleid tragen. Dann erkennst du sie. Das eine Mädchen, das das schwarze Kleid trägt, wird Tipingee sein. Ruf sie und nimm sie mit!“
Aber Tipingee hatte wieder gehört, was die Stiefmutter sagte. Sie rannte los und bat alle ihre Freundinnen, am nächsten Tag ein schwarzes Kleid anzuziehen.
Als der alte Mann am nächsten Tag zum Brunnen kam, sah er ein Mädchen, das schwarz gekleidet war. Er sah ein zweites Mädchen, das ein schwarzes Kleid anhatte. Er sah ein drittes Mädchen, das schwarz trug.
„Welche von euch ist Tipingee?“ fragte er.
Das erste Mädchen sagte: „Ich bin Tipingee.“ Das zweite Mädchen sagte: „Sie ist Tipingee.“ Das dritte Mädchen sagte: „Wir sind auch Tipingee.“
„Welche von euch ist denn nun Tipingee?“ fragte der alte Mann ärgerlich. Und die Mädchen reichten sich die Hände, hüpften im Kreis herum und sangen:
„Ich bin Tipingee, sie ist Tipingee, wir sind auch Tipingee! Ich bin Tipingee, sie ist Tipingee, wir sind auch Tipingee!“
Der Mann wurde böse. Er ging zur Stiefmutter und sagte:
„Du hast mir versprochen zu bezahlen, aber du machst mir stattdessen nur Ärger. Du sagst mir `Tipingee`. Aber jede hier ist Tipingee, Tipingee, Tipingee! Wenn das ein drittes Mal passiert, komme ich und nehme dich selber als Dienstmagd.“
„Lieber Herr“, sagte die Stiefmutter, „morgen wird sie rot angezogen sein, ganz und gar in Rot. Ruf sie und nimm sie mit.“
Und wieder hatte Tipingee gelauscht, lief los und bat ihre Freundinnen, sich auch alle rot anzuziehen.
Am nächsten Tag zur Mittagszeit kam der alte Mann zum Brunnen. Er sah ein Mädchen, das ein rotes Kleid anhatte. Er sah ein zweites Mädchen, das ein rotes Kleid trug. Er sah ein drittes Mädchen, das rot gekleidet war.
„Welche von euch ist Tipingee?“ fragte er.
Das erste Mädchen sagte: „Ich bin Tipingee.“ Das zweite Mädchen sagte: „Sie ist Tipingee.“ Das dritte Mädchen sagte: „Wir sind auch Tipingee.“
„WER VON EUCH IST TIPINGEE?“, schrie der alte Mann.
Aber die Mädchen klatschten nur in die Hände, hüpften auf und nieder und sangen:“ Ich bin Tipingee, sie ist Tipingee, wir sind auch Tipingee! Ich bin Tipingee, sie ist Tipingee, wir sind auch Tipingee!“
Dem alten Mann wurde klar: Er würde nie herausbekommen, welches der Mädchen Tipingee war!
Da ging er zurück zur Stiefmutter und nahm sie mit!
Als Tipingee wieder nach Hause kam, war die Stiefmutter weg. So lebte sie in ihrem eigenen Haus mit all den schönen Sachen von ihrem Vater und war glücklich.“
Wahrscheinlich hat sie sofort alle ihre Freundinnen eingeladen!
♦♦♦ ≈ Ende ≈ ♦♦♦ |
Das Märchen ist aus Haiti, aber ich finde, es gilt für alle Mädchen! So habe ich es auch gemalt, Mädchen wie hier, und privat zu meiner eigenen Freude übersetzt. Die Autorin wird mir das sicher urheberrechtlich verzeihen.Die Sammung heißt „Fearless Girls, Wise Women & Beloved Sisters – Heroines in Folktales from around the World” und wurde von der australischen Anthropolgin Kathleen Ragan zusammengestellt. Es sind noch viele andere schöne Märchen darin.
New York 1998, ISBN 0-393-04598-6